Selbst-sicher entscheiden
Iris Rommel | Leadership Development
WIE SIE IN KOMPLEXEN ZEITEN HANDLUNGSFÄHIG BLEIBEN
„Führen bedeutet, Organisationen entscheidungsfähig zu machen“ (vgl. Luhmann) – es gibt viele Beschreibungen, was gutes Führungshandeln ausmacht, aber diese Definition gehört zu meinen Lieblingsbeschreibungen.
Warum gefällt mir diese Beschreibung? „Das Unternehmen entscheidungsfähig machen“ löst sich von einem Managementverständnis des bloßen Organisierens und Optimierens, also von dem Bild der Führungskraft als Macher, als Macherin. Sondern diese Beschreibung spricht sehr wertvolle menschliche Potenziale an. Sie weckt Assoziationen zu Qualitäten wie Klugheit, Selbstbestimmtheit und Gestaltungskraft. Auch übersetzt auf individuelle Lebensführung funktioniert dieser Gedanke Selbstmanagement bedeutet, sich entscheidungsfähig zu machen und damit sich seiner Möglichkeit, für sein Leben Weichen zu stellen, bewusst zu sein.
Diese Vorstellung von Führung – und damit auch gleichzeitig Anforderung an Führungskräfte – kommt viele Entscheider und Entscheiderinnen zurzeit hart an. Viel zu sehr erleben wir uns gerade als Getriebene und als Ohnmächtige. Das Tempo der digitalen Welt, die Undurchschaubarkeit globalisierter Dynamiken in Wirtschaft und Politik, die Anreicherung von Komplexität und Nicht-Vorhersagbarkeit führen für viele von uns zu einem Grundgefühl des Kontrollverlustes. Kein schönes Gefühl….
Was haben uns die aktuellen Erkenntnissen aus der Entscheidungstheorie in dieser Situation für unsere tägliche Entscheiderpraxis zu bieten?
Begleiten Sie mich auf einen kurzen Ausflug in die jüngere Historie dieser Forschungsdisziplin.
Entscheidungstheorie Gabler-Verlag
Rationalität und Homo oeconomicus
Noch breitet sich dort, wo zukünftige Entscheider ausgebildet werden, nämlich in den betriebswirtschaftlichen Lehrbüchern das Ideal des Homo oeconomicus aus. Dort finden sich eine Fülle von Tools zur Entscheidungshilfe, die sich in die Forschungstradition der formalen Entscheidungslogik einordnen lassen. Mögliche Handlungsoptionen werden in Daten und Zahlen übersetzt und als Ausrichtung für den eigentlichen Akt der Entscheidung werden mathematisch-logische Axiome zugrundegelegt, eingeordnet in die grundsätzliche Annahme, alles menschliche Handeln richtet sich an der Absicht (ökonomischer) Nutzenmaximierung aus.
Doch schon hat sich die Entscheidungstheorie zu einem interdisziplinären Forschungsgebiet weiterentwickelt und der Strang der Behavioral Decisionmaking Theory nimmt sozialwissenschaftliche Fragestellungen auf und beforscht den menschlichen Entscheidungsprozess als solchen. Dabei leitet die Forscher die Überzeugung, dass Menschen Rationalität als entscheidungsleitendes Prinzip zwar anstreben, aber nicht in der Lage dazu sind, da wir physiologischen, psychologischen und sozialen „Beschränkungen“ unterliegen.
Logik kann irren
Wie unsere menschliche Logik irren kann, dazu hat zum Beispiel der israelische Wissenschaftlicher Daniel Kahnemann einen wichtigen Forschungsbeitrag geliefert.
Kahnemann, an den 2002 der Nobelpreis für Wirtschaft ging, hat sich mit Wahrnehmungsverzerrungen und daraus resultierenden Entscheidungsfehlern beschäftigt hat. Warum bezahlen zum Beispiel Menschen auf eBay in den letzten entscheidenden Minuten einer Auktion mehr für ein gebrauchtes Handy, als sie im Laden bezahlen würden, obwohl sie das ganze Vorhaben gestartet haben, mit dem erklärten Ziel, Geld zu sparen? Weil uns in diesem Moment unsere Furcht vor Verlust dominiert, die doppelt so stark ausgeprägt ist wie unser Streben nach Gewinn. – logisch? Logisch! Emotionen sind – ob es uns gefällt oder nicht – Teil unserer Entscheidungsprozesse.
Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse decken sich mit der Arbeitsweise vieler erfahrener Entscheider. Professionelles Managen braucht Zahlen und Datenübersichten. Es wäre grob fahrlässig, z.B. große Investitionen ohne quantifizierte Gewinnerwartungen und Marktanalysen zu tätigen. Doch erfahrene Entscheider pflegen gleichzeitig ein gesundes Misstrauen nicht nur gegen die Pseudo-Objektivität statischer Darstellungsformen als solcher, sondern vor allem gegen die scheinbare Zwangsläufigkeit der daraus abzuleitenden Entscheidungen. Erfahrene Entscheider orientieren sich in ihrer Entscheidungsfindung vor allem an ihrer Erfahrung – die wird in unserem Gehirn nicht nur analytisch, sondern vor allem auch emotional verarbeitet.
Entdeckung der Gefühle
Nachdem in der wissenschaftlichen Welt Kahnemann & Co. also schon den Weg für den Abschied von dem Ideal rein rationaler menschlicher Entscheidungsfähigkeit geebnet hatten, machen seit der 80er Jahre die „Somatischen Marker“, ein Konzept des Gehirnforschers Antonio Damasio, Furore in der Entscheidungstheorie.
Damasios Hypothese ist ebenso schlicht wie revolutionär: Wer nicht fühlen kann, kann nicht entscheiden. Durch das Studium von Patienten mit Hirnschädigungen hat Damasio entdeckt, dass für die menschliche Entscheidungsfähigkeit ein Teil der vorderen Gehirnrinde (Orbitofrontalkortex) verantwortlich ist, indem unser Gehirn Informationen aus verschiedensten Gehirnregionen verknüpft, um Handlungsalternativen abzuwägen, als entscheiden zu können.
Hier sitzt unser emotionales Erfahrungsgedächtnis, das sogenannte somatischen Marker in Form von Hormonausschüttungen und Muskelreaktionen produziert. Somatische Marker sagen zu uns „Stopp“ oder „Go“, je nachdem, wie unser persönliches emotionales Erfahrungsgedächtnis die Handlungsalternativen bewertet.
Umgangssprachlich beschreiben wir diese intuitive, körperliche und emotionale Wahrnehmungsdimension oft mit Körpermetaphern „ich hatte da so einen Riecher, dass das funktionieren könnte“ – „Ich hatte Bauchschmerzen mit dieser Entscheidung“ . Und sicher erinnern Sie sich – so wie ich – an Entscheidungen, wo wir im Nachhinein bedauern, nicht besser auf unseren „Bauch“, also auf die Hinweise unserer somatischen Marker gehört zu haben.
Was bedeuten diese aufregenden Erkenntnisse für unsere tägliche Entscheidungspraxis?
Gehen wir zurück zu unserer Ausgangssituation: viele Entscheider erleben zurzeit durch Überkomplexität unserer Umwelten, in denen wir agieren, unangenehme Gefühle des Kontrollverlustes.
Wie können wir entscheidungs- und handlungsfähig bleiben, wenn wir so wenig über unsere Zukunft wissen und vorhersagen können?
Ich möchte Sie an dieser Stelle auf die Arbeit von Maja Storch aufmerksam machen, die in dem Züricher RessourcenModell konsequent die Potenziale der „Entdeckung“ der somatischen Marker umsetzt.
Maja Storch ermuntert dazu, sich beim Treffen von Entscheidungen von der inneren Frage zu lösen „Ist diese Entscheidung richtig oder falsch“. Stattdessen empfiehlt sie, die Frage umzuformulieren „Ist diese Entscheidung gut für mich, fühlt sie sich gut an, kann ich sie emotional tragen?“ Durch dieses Reframing beforschen wir aktiv die Erfahrungsweisheit unserer somatischen Marker und beziehen die so gewonnenen Informationen auf bewusster Ebene in unsere Entscheidungsfindung – gemeinsam mit relevanten Zahlen, Daten und Fakten – mit ein.
Hier ein Beispiel, mit dem Frau Storch die komplexitätsreduzierende Wirkungsweise anschaulich macht:
Ein Unternehmer steht vor der Entscheidung, eine viel versprechende neue Kundenbeziehung aufzubauen. Allerdings würde er gleichzeitig die Gefahr eingehen, einen guten Freund zu verlieren, der mit dem potenziellen Neukunden auf Kriegsfuß steht.
Frau Storch macht anschaulich, dass unser Unternehmer mit dem Versuch, die Zukunft mit Wahrscheinlichkeitseinschätzungen möglicher ökonomischer und psychologischer Entwicklungen vorherzusagen und diese gegeneinander abzuwägen, nicht wirklich weiterkommt. Sondern unser Unternehmer muss herausfinden, unter welchem Verlust – Umsatz oder Freundschaft – er mehr leiden würde…
So einfach – zu einfach?
Ich selbst schwankte beim ersten Kontakt mit diesem Ansatz zwischen Widerstand „Na, so einfach ist es nun auch wieder nicht!“ und Faszination „So einfach könnten wir es uns also machen, gerade weil wir unsere Zukunft nicht mehr vorhersagen können.“
Und nach einigem Experimentieren mit diesem Fragefokus „Ist das gut für mich, für unsere Familie, für unser Unternehmen“ habe ich seine angenehm komplexitätsreduzierende Wirkung und positive Kraft schätzen gelernt.
Ich habe mir erlaubt, diesen Fragefokus einmal auf verschiedene Managementteams und auf klassische Entscheidungsanlässe anzuwenden:
Für Zögerliche
Ist es gut für unser Unternehmen, mit der Entscheidung noch zu warten oder sind wir einfach Drückeberger? Können wir es ertragen, die von unserer Entscheidung Abhängigen noch länger warten zu lassen? Wie würden wir uns fühlen, wenn wir wagen und gewinnen?
Für Wagemutige
Ist es gut für uns, diese risikoreiche Investition schnell zu tätigen, um diese verführerischen, scheinbar nie wiederkehrende Chance zu nutzen? Können wir das Risiko tragen? Gibt es Alternativen, die sich auch gut anfühlen?
Für Grandiose
Ist es gut für uns, noch ein Projekt zu starten, obwohl wir kein Personal/kein Budget dafür haben? Was hindert uns, loszulassen, wie würden wir uns fühlen, wenn wir auf dieses Ziel ganz verzichten? Was würde uns jetzt wirklich Freude machen?
In Zeiten vieler Spannungen
Ist es gut für uns, die Einwände der Stakeholder nicht einzubeziehen und stattdessen eine schnelle Entscheidung herbei zu führen? Wen könnten wir dadurch verlieren, können wir den Verlust im Netzwerk mittelfristig ertragen? Wie erleben wir die Rücksichtnahme auf Interessen anderer?
Unsere somatischen Marker sind schlicht. Sie kennen nur zwei Aufträge, nämlich entweder Schaden von uns und den Unsrigen abzuwenden oder positive Energien freizusetzen, um vielversprechende, attraktive Möglichkeiten zu erobern. Diese Schlichtheit kann uns, in diesen komplexen, verunsichernden Zeiten Orientierung für Entscheidungen geben und helfen, unsere Energien zu bündeln. Wenn wir – mit Achtung unserer Gefühle uns unserer Intuition – unsere Entscheidungen nah an unseren individuellen Bedürfnissen, Ressourcen und Grenzen ausrichten, können wir auf nicht authentische Imitationen der Erfolgsmuster anderer verzichten. Wir trauen uns, überholte, Lust und Kräfte raubende Routinen aufzugeben und stattdessen – unterstützt von rationaler Risikobetrachtung – Neues zu wagen, das uns lockt und gut tut.
Mehr Wissen finden Sie hier: Was ist Systemtheorie? (kurze Abhandlung)
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